J. Hoffmann-Salz: Im Land der räuberischen Nomaden?

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Titel
Im Land der räuberischen Nomaden?. Die Eigenherrschaften der Ituraier und Emesener zwischen Seleukiden und Römern


Autor(en)
Hoffmann-Salz, Julia
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
443 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Eckhardt, School of History, Classics and Archaeology, University of Edinburgh

In der Geschichte des Nahen Ostens ist die Zeit des Zerfalls des Seleukidenreichs und der schrittweisen Etablierung der römischen Herrschaft eine der unübersichtlichsten und (wenn man die von Jerusalem aus kontrollierten Gebiete ausnimmt) auch am schlechtesten dokumentierten Perioden. Seit dem frühen 1. Jh. v.Chr. erscheinen dabei die ituräischen Dynasten von Chalkis regelmäßig als politische Akteure auf dem Territorium des heutigen Libanon, aber auch in Konflikten um Damaskus und Obergaliläa; vor allem im Umfeld der römischen Aktivitäten in der Region begegnen dann auch die Herrscher von Emesa regelmäßig in den Quellen, ohne dass sich aus den meist kurzen Erwähnungen ein klares Bild dieser nicht unwichtigen Machthaber und ihrer Herrschaftsbildungen gewinnen ließe. Julia Hoffmann-Salz hat sich in ihrer Habilitationsschrift der schwierigen Aufgabe gestellt, das heute bekannte archäologische, epigraphische und (für die Ituräer) numismatische Material mit einer kritischen Lektüre der literarischen Quellen zu verbinden und so das Bild der Ituräer und Emesener in der Forschung auf eine neue Grundlage zu stellen.

Der Name des Buches ist dabei Programm: Das Hauptergebnis der Arbeit, auf das praktisch alle Kapitel hinführen, ist die These der Verfasserin, dass es sich bei den ituräischen und emesenischen Herrschern nicht um die Anführer von Nomadenstämmen handelte, die zivilisierte Griechen- und Phönizierstädte ausraubten, sondern um ehemalige seleukidische Funktionsträger, die in der Region seit langem sesshaft und gut vernetzt waren. Dass die literarischen Quellen – vor allem Strabon und Josephus – sie stattdessen als kulturlose Räuber darstellen, erklärt sie mit der Konkurrenzsituation, in der sich vor allem die Ituräer sowohl mit den griechischen Städten der Region als auch mit den Machthabern von Judäa befanden, also denjenigen Gemeinschaften, denen sowohl die Autoren selbst als auch ihre Quellen (Nikolaos von Damaskus und Poseidonios von Apameia) angehörten. Das Alternativmodell, also die seleukidische Anbindung der Dynasten und ihr Anteil am Aufbau von Herrschaftsstrukturen in diesem Raum, ist zwar nicht direkt beweisbar, doch Hoffmann-Salz ist sicher darin zuzustimmen, dass Ptolemäer und Seleukiden die strategisch schon allein für die zahlreichen Truppenbewegungen in den syrischen Kriegen bedeutsame Bekaa nicht völlig sich selbst überlassen haben dürften. Die sowohl für das Kernland der Ituräer als auch für die Gegend um Homs (Emesa) postulierte Verdichtung von Siedlungsstrukturen in hellenistischer Zeit wertet sie daher als strategische „Gebietssicherung und Inwertsetzung durch die Zentralmächte“ (S. 107), die dabei mit örtlichen Eliten kooperiert hätten.

Von dieser Grundannahme leitet sich alles Weitere ab, etwa die Rekonstruktion des Aufstiegs dieser lokalen Potentaten zu eigenständigen Machthabern unter Tigranes und dann als römische Klientelherrscher (S. 136–186), oder die Überlegungen der Autorin zu Herrschaftsstrukturen und Ressourcenzugriff, die nicht zuletzt Steuer- und Pachteinnahmen aus eben jenen, im Hellenismus auf Königsland gegründeten Siedlungen in Rechnung stellen (S. 187–235, hier konkret 205–209). Auch die Frage nach etwaigen Gemeinschaftsidentitäten der Ituräer und Emesener stellt sich anders, wenn man sie nicht als eingewanderte Nomadenstämme, sondern als heterogene Einwohnerschaft einer Großregion versteht, die eben durch die Kooperationspolitik der späten Seleukiden unter die Herrschaft zweier Elitenfamilien geraten war, deren Herkunft keineswegs derjenigen aller oder auch nur der meisten ihrer Untertanen entsprochen haben muss (S. 236–309). Dass die ituräischen Dynasten – anders als die diesbezüglich allerdings kaum greifbaren Emesener – in ihrer Herrschaftsrepräsentation ausschließlich auf allgemein hellenistische statt auf lokale Motive zurückgreifen, sieht Hoffmann-Salz als zusätzlichen Beleg für ihre Ursprünge in seleukidischen Machtstrukturen (S. 310–360).

Auf dem Weg zu diesen Ergebnissen unterzieht Hoffmann-Salz die Quellen einer generellen Revision. Der Versuch, sie „gegen den Strich“ zu lesen, führt zwangsläufig in hypothetische Szenarien, doch die angebotenen Deutungen sind oft mindestens ebenso plausibel wie der Forschungsstand. Wenn die Besatzung von Damaskus die Stadt erst an Philip I. und dann wegen dessen Undankbarkeit wieder an Antiochos XII. übergab, nach dem Tod des letzteren aber „aus Hass gegen [den Ituräerfürsten] Ptolemaios Mennaiou“ dem Nabatäerkönig Aretas III. die Herrschaft antrug (Josephus, Antiquitates 13,387–392), dann ist die Vermutung, Ptolemaios sei als Parteigänger Philips und nicht etwa als nomadischer Räuber verhasst gewesen, sicher nicht abwegig (S. 137). In der pointierten Kontrastierung dessen, was man den Quellen bei kritischer Behandlung entnehmen kann und dem, was in der Forschung oft aus ihnen gemacht wurde, kann die Arbeit oft überzeugen. Bei der Lektüre der stets sorgfältig abwägenden Überlegungen wird indes immer wieder deutlich, dass aufgrund der schlechten Quellenlage Hypothesen auf Hypothesen gebaut werden müssen, um wirklich weiterzukommen. Viele Lücken müssen zudem durch Analogien geschlossen werden, die ihrerseits eine komplexe Forschungsgeschichte haben. Die von Hoffmann-Salz oft sehr effektiv eingesetzten Vergleiche besonders mit den Nabatäern und Hasmonäern erhellen die Grenzen dessen, was wir über Ituräer und vor allem Emesener wissen, lassen aber Raum für Nachfragen. So wird etwa die Frühphase des Hasmonäeraufstands, in der Höhlen und Überfälle eine wichtige Rolle spielen, für eine reductioadabsurdum herangezogen: hätten wir nicht die Eigensicht der Hasmonäer, müsste man ihre Erhebung ebenso für einen Räuberaufstand halten, wie die Ituräer in den Quellen als Räuber gelten. Da die Gleichung dort offensichtlich nicht zutrifft, tut sie es auch hier nicht (S. 303). Aber wäre es wirklich so falsch, den Hasmonäeraufstand und sogar noch die hasmonäische Staatenbildung in Judäa und Umgebung im Wesentlichen als Ergebnis von gut organisierten Raubzügen zu verstehen?1 Und wenn man die Parallele von dort her weiterspinnt: ist es wirklich, wie Hoffmann-Salz glaubt (S. 198), unvorstellbar, dass Beutezüge und Eroberungen genug Ressourcen generieren konnten, um Herrschaft über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten und wechselnden Zentralmächte zu beeindrucken? Wird also, wie Hoffmann-Salz suggeriert (S. 188), die Deutung der Ituräer als Räuberhauptmänner schon dadurch unmöglich, dass man ihnen eine Rolle in der seleukidischen Herrschaftsstruktur in der Bekaa und Umgebung zuweist – oder könnte nicht beides zugleich richtig sein? Womöglich wird hier etwas zu leicht vorausgesetzt, dass einigermaßen stabile Strukturen, die etwa eine Kooperation mit Großmächten erlauben, ausschließlich unter den Bedingungen von Staatlichkeit und regulärer Ressourcenkontrolle entstehen können. Das ändert an der grundsätzlich überzeugenden Quellenkritik nichts, macht aber noch einmal deutlich, dass auch das hier angebotene Modell im Wesentlichen Hypothese bleibt, die ihrerseits – wie eben die Nomadenthese – auf nicht explizierten Vorannahmen aufbaut.

Die Korrektur hätte sorgfältiger erfolgen können: neben zahlreichen Tippfehlern stören vor allem die häufigen Fehler bei der Nummerierung hellenistischer Herrscher.2 Davon abgesehen – und trotz des „was wäre wenn“-Charakters vieler Argumente – handelt es sich um ein spannendes, innovatives Buch mit einer klaren These, die zu weiteren Überlegungen einlädt. Für die Forschung zum späthellenistischen und römischen Nahen Osten ist es ein Gewinn.

Anmerkungen:
1 So spricht etwa Eduard Meyer vom „jüdischen Raubstaat“ (Ursprung und Anfänge des Christentums II, Stuttgart 4/51925, S. 281), was man freilich durch den bekannten Antisemitismus Meyers erklären könnte; siehe aber auch etwa Morton Smith, The Gentiles in Judaism 125 BCE–CE 66, in William Horbury / W. D. Davies / John Sturdy (Hrsg.), The Cambridge History of Judaism III, Cambridge 1999, S. 192–249 (hier S. 209f).
2 So steht etwa S. 30f. Antiochos III. statt IV.; S. 77 Antiochos VI. statt IV. (oder III.); S. 119 Ptolemaios IV. statt VI.; S. 125 und 126 Antiochos IV. statt VI.; S. 362 Seleukos I. statt II.; S. 363 Antiochos XII. statt XIII.; S. 376 Antiochos III. statt IV.

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